Tatsachen schafft man nicht aus der Welt, indem man sie ignoriert“ (Aldous Huxley)
Ein kritischer Debatten-Beitrag von Karl-Hermann Schaarschmidt
Überholter „Rassenhass“-Begriff im Staatsvertrag – Fraglicher Umgang mit Minderheiten, z.B. jüdischen Gemeinden – DGB-Studie kritisiert mangelhafte Transparenz nach außen – Gedanken zum Jahrestag von Halle – Jüdische Studenten sammelten 30 000 Euro für Döner-Betreiber in Halle, weil ohne staatliche Hilfen – Welchen Stellenwert hat Antisemitismus-Bekämpfung im MDR-Programm?
Bundespräsident Steinmeier, selbstverständlich der Ministerpräsident und der jüdische Zentralrats-Präsident Schuster werden heute, am 9.Oktober, beim Gedenkakt auf dem Grün vor der von einem mörderischen Anschlag bedrohten Synagoge zu den Gästen sprechen – erinnern, mahnen, fordern, gewiss.
Denn: Halle ruft!
Halle ruft uns alle – am ersten Jahrestag des gescheiterten Attentats auf 50 Menschenleben, das dennoch den Tod von zwei unbeteiligten Hallensern forderte. Ein Tag, parallel zum laufenden Prozess gegen den geständigen, 27jährigen Attentäter, der sich vermutlich noch längere Zeit hinziehen wird. Ein Prozess, zu dem die deutsche Justiz – für ihre unendliche Akribie, Umständlichkeit und Langsamkeit ohnedies bekannt – fast ein Jahr bis zum Prozessbeginn brauchte. Trotz des bereits an jenem jüdischen Jom-Kippur-Festtag vor einem Jahr gefassten, geständigen Täters, dem offenkundigen Vorhandensein sämtlicher Fakten – aber die Zeit, die Zeit verstrich.
Die deutsche – und wohl auch die besorgte europäische – Öffentlichkeit hätten es sich gewiss gewünscht, dass ein Jahr nach dem Geschehen wenigstens ein Urteil gefällt, alle Details des Angriffs auf die 50 jüdischen Mitbürger in der Synagoge geklärt – und auch die antisemitischen Motive des Täters eindringlich und voller Sorge benannt und daraus warnende Mahnungen erwachsen wären…
Aber dem ist nicht so.
Und ein Blick nach Hanau, wo ein Rassist am 19.Februar neun Menschen dahinmähte und sich dann selbst richtete, bietet ein finsteres Bild: Von einem Abschluss der Ermittlungen durch die Bundesanwaltschaft ist keine Rede. Als der zuständige Ausschuss im hessischen Landtag Mitte Mai zu diesem brisanten Thema tagte – drei Monate nach dem Attentat! – sagte der zuständige Bundesanwalt Thomas Beck zumindest zu, es werde keine „08/15-Einstellung“ des Verfahrens geben – was für eine unsensible Bemerkung. Und Armin Kurtovic, Vater eines der Opfer, kritisierte nach der Anhörung auch klar und deutlich: „Die Fragen, die wir haben, wurden nicht geklärt.“
Zu den weiterführenden Fragen – über Hanau und Halle hinaus – gehört gewiss die Überlegung, in welchem medialen Umfeld sich die Täter bewegt und radikalisiert haben: Gehört dazu nicht auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk, das Fernsehen, die allgemeine Stimmungslage?
Zu den Einrichtungen, die dafür eine wichtige politisch-pädagogische Verantwortung tragen, zählt sicherlich auch der Mitteldeutsche Rundfunk: 1991, inmitten der unruhigen Zeiten nach dem Beitritt der fünf neuen Länder zum Grundgesetz (vulgo auch „Wiedervereinigung“ genannt), gegründet. Schon damals grassierte Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft: Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus 2015 – fünf Jahre später vielleicht noch mit einem niederschmetternden Ergebnis – hegen zehn (!) Prozent der Deutschen „antisemitische Haltungen“. Was man sich nicht vorstellen mag: Dies entspricht rund acht Millionen Deutschen…
Nach dem Aufbau der nunmehr erweiterten Bundesrepublik ergab sich deutlich, dass auf früherem DDR-Gebiet – allein schon aus ideologisch-antiisraelischen Gründen – eine Holocaust-Aufarbeitung unter SED-Herrschaft so gut wie unterblieben war. Im MDR-Sendegebiet versuchte man – so geben es ausführliche Berichte in „Frankfurter Rundschau“, „Süddeutscher Zeitung“, der TAZ und WELT her, jedenfalls vom Funkhaus Magdeburg aus, offenbar dieser gefährlichen Tatsache entgegen zu wirken: Es gab Einladungen an Ignatz Bubis, den damaligen, prominenten Sprecher der jüdischen Deutschen, an den amtierenden Generalkonsul Mordechay Lewy „MAGDEBURGER GESPRÄCH“ – aber auch Streit darüber, weil – so sagen es die Archive – führende MDR-Verantwortliche bei diesem lebenswichtigen Thema keine „landespolitischen Notwendigkeiten“ sahen.
Was aber, wenn öffentlich-rechtliche Korrekturen – ausgebreitet durch das Massenphänomen Fernsehen – ausbleiben? Konnten die Schulen damals – durchsetzt mit indoktrinierten DDR-Alt-Lehrern – oder die Elternhäuser diese notwendige Information übernehmen? Wohl schwerlich, denn auch die Elterngeneration des Attentäters von Hanau und von Halle versagte offenkundig.
Eine Fehldeutung? Wohl nicht.
Schaut man beim erwähnten Mitteldeutschen Rundfunk mit seiner Quasi-Monopolstellung, was die mediale Beherrschung des öffentlichen Raums zwischen Elbe, Harz, Thüringer Wald und Vogtland angeht, schärfer hin, lassen sich einige Merkwürdigkeiten erkennen.
So fallen im – aus heutiger Sicht – uralten Staatsvertrag vom 30.Mai 1991 mehrere – teils dramatische – Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten auf:
So formulieren die Gründungsväter des MDR beispielsweise in § 10 (Unzulässige Sendungen) den Unterpunkt 1 folgendermaßen: „Sendungen sind unzulässig, wenn sie zum Rassenhass aufstacheln usw.“
Rassenhass – das ist „Goebbels-Sprech“ schlimmster Herkunft – die Vokabel klingt wie aus dem NS-Lehrbuch der Nürnberger Rassengesetze, die Hitlers übelster, antisemitisch kaum zu überbietender, wichtigster Helfer bei der Indoktrinierung der nur allzu willigen Deutschen propagierte. Nun wissen wir, dass die Debatte über diesen Begriff – weil auch im Grundgesetz von den Verfassungsvätern von 1949 verwendet – in diesem Sommer mit großer Verve begonnen wurde.
Aber von „Rassenhass“ ist im wohlbekannten Artikel 3 GG s o nicht die Rede: In der bekannten Aufzählung in Unterpunkt 3 „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache…“ usw. wird der Begriff als eindeutig negative Fehlhaltung, als verfassungsfeindliche Unzulässigkeit, markiert. Die Formulierung „Rassenhass“ intendiert, dass unterschiedliche „Rassen“ – gäbe es sie – durchaus „Hass“ aufeinander empfinden und sogar ausüben könnten. Zudem liegen zwischen 1949 und 1991 immerhin 42 (!) Jahre politischer-psychologischer Entwicklungen.
Hätten die MDR-Staatsvertrags-Vertreter – und der damalige Gründungs-Intendant Udo Reiter – hier nicht sprachliche Sensibiliät an den Tag legen müssen?
Oder liest im MDR niemand den eigenen Staatsvertrag? Sind die eigentlichen, wegweisenden politisch-organisatorischen Grundlagen des eigenen, hoch verantwortlichen Handelns gar nicht bekannt, verdrängt oder – wer weiß – unbeachtlich?
Diese Fragen müssen erlaubt sein.
Auch, wenn die Ablehnung von bestimmten Programminhalten – siehe Antisemitismus-Problematik in den neuen Ländern – offenbar zumindest am Anfang der MDR-Geschichte (immerhin die Nr.4 in der an Zwangseinnahmen und Immobilienbesitz nicht eben armen ARD-Familie) durchaus gang und gäbe war. Was jedoch, folgt man dem Staatsvertrag, nun eben ein eklatanter Verstoß gegen Text und gewiss auch Geist dieses Vertrages war.
Denn, man beachte, in § 6, Ziffer 3, heißt es: „Die Sendungen des MDR haben den Belangen aller Bevölkerungsgruppen, auch der Minderheiten, Rechnung zu tragen.“ Das heißt: auch die jüdischen Gemeinden – mit wenigen tausend Mitgliedern, häufig willkommene Zuwanderer aus Drittstaaten, ohnedies verschwindend klein – hätten demnach einen klaren Anspruch darauf, im Programm vertreten zu sein.
Bei Überlegungen wie diesen kommt man leicht in die Versuchung, die Sache einmal simpel zu versuchen – also in die MDR-Mediathek alle Spielarten des Begriffs „jüdisch“ einzugeben: Leider Fehlanzeige – „konnte nicht gefunden werden“, lautet die lakonische Antwort des Computers. Wie soll er auch anders reagieren, wenn es offenbar derartige Inhalte nicht gibt – oder sich unter anderen Begriffen gleichsam verstecken – hoffen wir es für den MDR. Denn der Sender hat, lesen wir in § 8, in seinen Sendungen die Würde des Menschen „sowie die sittlichen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer zu achten“.
Und, so denkt der rundfunkpolitische Laie, dann auch im Programm zu spiegeln. Oder?
Wie es indes um die innere Verfasstheit des Senders mit dem markanten Emblem am Turm in der (höchst teuren) Leipziger City bestellt ist, erhellt ein neutraler Beobachter. Denn der DGB – im politischen Alltag dieses Landes sonst nicht mehr sehr auffällig – gab eine Expertise in Auftrag, die so einiges ans Tageslicht bringt.
Unter dem Titel „Öffentliche Anteilnahme ermöglichen – Transparenz, Aufsicht und öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Deutschland“ zeichnet Autor Dominik Speck mit Datum „Oktober 2019“ seiner umfangreichen Ausarbeitung ein durchaus kritikwürdiges Bild über MDR-Interna:
Der Reihe nach:
Nach Speck rang sich der MDR erst „nach mehrjähriger Diskussion“ (von 1991 bis April 2019, also in 28 vertanen Jahren!) dazu durch, den Rundfunkrat öffentlich tagen zu lassen: Die 43 Damen und Herren verdienen sich, obgleich angeblich „ehrenamtlich tätig“, mit monatlich exakt 701,36 Euro ein durchaus honorables Taschengeld dazu, über das sich jeder Hartz-4-Empfänger oder Asylbewerber im nicht eben luxuriösen Leipziger Aufnahmeheim gewiss freute. Und weiter: Für die öffentlichen Plenarsitzungen gebe es zwar „Zusammenfassungen der wesentlichen Ergebnisse“. Aber: „Für die Ausschüsse gilt das nicht. Die Mitglieder werden knapp mit Fotos und entsendender Organisation vorgestellt, weitergehende biografische Informationen gibt es ebenso wenig wie Anwesenheitslisten.“ Heißt: Wer will, kann auch mal fehlen – und dennoch fließt das Monats-Salär.
Na bitte, ein Lob dem öffentlich-rechtlichen System!
Beck moniert auch, dass zwar dieses Jahresvergütung der Intendantin öffentlich gemacht wird, „nicht jedoch der Direktorinnen“ (Seite 11, oben, erste Zeile) Und der Autor moniert weiter, womit der MDR Geschäfte macht: „Insgesamt könnten die MDR-Unternehmensseiten noch etwas besser navigierbar sein.“ Heißt auf Deutsch – das Auffinden ist, zumal für Außenstehende, schwierig, oder?
Becks nachdenkliches Fazit lautet schließlich: „Die Gremienmitglieder könnten sich im Sinne einer größeren Transparenz dafür einsetzen, dass der Verwaltungsrat über seine Tagesordnungen und die Sitzungsergebnisse online ausführlicher informiert, der Rundfunkrat biografische Informationen für alle Mitglieder und Anwesenheitslisten der Sitzungen zur Verfügung stellt, weitere Transparenzpflichten in die Rechtsgrundlagen der Anstalt aufgenommen werden, etwa zur Vergütung der Geschäftsleitung.“
Eben dies sollte man für ein Unternehmen mit (Ende 2018) immerhin 2095 fest Angestellten und 1575 Freien (und allein 198 Millionen Euro Rückstellungen für Pensionen) und horrenden Einnahmen aus Anlagevermögen (offenbar an der Börse oder in Fonds) erwarten.
Oder?
Der siebenköpfige MDR-Verwaltungsrat kommt in dieser unabhängigen Untersuchung (in der MDR-Mediathek, wen wundert`s?, nicht auffindbar) schlechter weg: Der Rat verfüge über einen eigenständigen Online-Auftritt, „dafür aber ohne Sitzungs-Transparenz. So gibt es weder Informationen zu Terminen und Tagesordnungen noch Zusammenfassungen der behandelten Themen.“ Allenfalls, so Beck. ließen sich aus den Pressemitteilungen „einzelne Schwerpunkte herauslesen. Hier hinkt das Gremium – wohl auch mangels gesetzlicher Vorgaben – manch anderem Verwaltungsrat im ARD-Verbund hinterher.“
Eine glatte Ohrfeige, oder?
Hängt die Verschwiegenheit vielleicht auch damit zusammen, dass dem Verwaltungsrat – gelegentlich natürlich, aber wenn es pressiert – parallel zu Personalangelegenheiten geheime Nebenakten und Notiz-Listen vorgelegt werden, die dann offenbar ohne Einreden abgenickt werden? Folgt man im Zeitungsarchiv ordentlicher Bibliotheken den Berichten von „Frankfurter Rundschau“ oder „Süddeutscher Zeitung“ aus den Zeiten von Reiter oder eines Funkhausdirektors Ralf Reck und eines Chefproducers Programm Heiner Tognino , so spielte diese Spielart des Umgangs mit unliebsam gewordenen Mitarbeitern offenbar – zumindest in den Neunziger Jahren – eine Rolle.
Es wäre spannend, zu wissen, ob sich Mitglieder des heutigen Verwaltungsrates gelegentlich die Sünden ihrer Vorgänger, unter Vorsitz von Dr. Karl Gerhold, vorlegen ließen – aber welche MDR-Spitze wagt das schon, weil es ggf. ordentlichen Ärger geben könnte?
Wie hier zu beweisen war: Recherche lohnt sich, offenbar. Denn Kurt Tucholsky hat recht: „Man muss nicht alles so genau verstehen, lesen genügt auch.“
Zurück nach Halle!
Es bleibt Hoffnung – und die – fast sprachlos machende – Genugtuung über eine zeichenhafte Aktion der „Jüdischen Studierendenunion Deutschland“. Sie sammelte seit dem Morden von Halle rund 30 000 Euro an Spenden für den Besitzer des Döner-Grills, Ismet Tekin, in dem ein Opfer erschossen wurde. Ihn selbst verfehlten Schüsse des Mörders. In der Corona-Krise stand der Döner-Laden kurz vor der Pleite, weil Tekin nach momentaner Rechtslage (weder körperliche noch nachweisbare seelische Schäden) keinen staatlichen Entschädigungsanspruch hatte.
Heute übergeben Studenten im Rahmen der Gedenkfeier den Sammler-Ertrag an Ismet Tekin.
Lassen wir zum Finale einen Großen dieser Welt zu Wort kommen – Winston Churchill. Seine Worte passen zu Halle und dem Glauben an eine Zukunft ohne Hass und einem Leben in Frieden:
Alle großen Dinge sind einfach und viele können mit einem einzigen Wort ausgedrückt werden: Freiheit, Gerechtigkeit, Ehre, Pflicht, Gnade – und Hoffnung.“
„Tatsachen schafft man nicht aus der Welt, indem man sie ignoriert“ (Aldous Huxley)
Magdeburger Gespräch: „Antisemitismus im Öffentlich-rechtlichen Fernsehen, taz „Zuviel Jüdisches“